Gesendet im Deutschlandfunk, Redaktion Büchermarkt:
John McPHEE: Floridas Orangenindustrie ist so groß, weil sie gigantische Geschäfte mit dem Orangensaftkonzentrat macht. Als Wissenschaftler herausfanden, wie sich zumindest einige der natürlichen Geschmacksstoffe in einem Konzentrat gefrorener Orangen konservieren ließen, fing die Industrie an zu boomen. Sicherlich, schon vor dieser Innovation spielte die Orangenindustrie eine wichtige Rolle, aber die Erfindung dieses Konzentrats zog eine drastische Ausdehnung des Frischobsthandels nach sich. Das war allerdings nicht der Aspekt, der mich an diesem Projekt reizte. Ich bin nicht daran interessiert, über Big Business zu schreiben. Ich bin auch nicht daran interessiert, die gesellschaftlichen Zusammenhänge, in denen sich etwas Verblüffendes für diese Menschen ereignet, zu beschreiben. Ich will Menschen vor dem Hintergrund, in dem sie arbeiten, skizzieren. Alle meine Bücher handeln von realen Personen an realen Orten. Ich weiß, daß das nicht viel aussagt. Aber es ist letztlich das, was mich anzieht: das Skizzieren von Menschen. Ebenso wie in dem Buch über die Orangen beschreibe ich in meinem letzten Buch über die russische Kunst die unterschiedlichsten Charaktere. Von Bedeutung sind für mich dabei nicht so sehr die Kunst oder die Orangen, als vielmehr die Menschen, die mit Orangen und Kunst zu tun haben.
GÖLDENBOOG:
23 Bücher hat John McPhee bisher publiziert, und mit jedem dieser Bücher präsentierte er Charaktere, wie sie unterschiedlicher hätten nicht sein können: So handelt beispielsweise „The Ransom of Russian Art", McPhees zuletzt in den USA erschienene Abhandlung über russische Kunst, von einem seltsamen Universitätsprofessor der Ökonomie in Maryland; ein Akademiker, der zwischen 1960
und 1988 über 10,000 Werke „inoffizieller" Kunst aus Rußland schmuggeln ließ, und der so zum weltweit bedeutendsten Sammler sowjetischer Underground-Kunst avancierte. Auch in „Orangen" schreibt der Autor über die verblüffendsten Charaktere. Und so zeigt uns McPhee, daß Florida mehr ist als eine sonnige Ansammlung von Urlaubern an Stränden, Multimillionären in Yachthäfen und Rentnern in Eigentumswohnungen: Im Inneren Floridas leben Orangenbarone, Orangenpflücker, Orangenexporteure, Orangenakademiker, Orangenköniginnen, Orangendiebe; Orangentypen unterschiedlichsten Kalibers, komplex und kantig, die in keine Stereotype passen.
Neben der präzisen Beschreibung seiner Hauptdarsteller verfügt das Buch, obwohl schon 1967 geschrieben, über ein weiteres typisches McPhee-Markenzeichen: Eine Fülle an Informationen wird brillant strukturiert, kurz und kompakt auf nicht einmal 200 Seiten aufbereitet.
McPhee schreibt über die Geschichte der Zitrusfrüchte genauso detailliert wie über die Forschung mit Orangen oder über deutsche Prinzen im 18. Jahrhundert, die fast alle Orangen in ihren Schlössern zogen. Offenbart werden dem Leser auch die letzten Weisheiten und Neuigkeiten über Orangenkisten, über Kerne in kernlosen Orangen und über das Sexualleben der Orangen. McPhee schreibt über Wasser in kleinen Flüssen, das so klar ist wie ein Forellenbach in den Schweizer Alpen; Wasser, das bis vor wenigen Minuten noch in dem Fruchtfleisch von Orangen war - bevor diese in einem Verdampfer zu Konzentrat gepreßt wurden. Da moderne Konzentrieranlagen in einem halben Tag vier Millionen Orangen durchpressen, muß durch Floridas Hinterland viel klares Wasser fließen.
McPhee zitiert historische Kochrezepte ebenso wie arabische ¸Heilkundebücher. Letztere behaupten, daß eine getrocknete Orange in heißem Wasser verrührt auf der Stelle jede Kolik stoppen könne. McPhee präsentiert Details über Details, und man hat den Eindruck, als habe der Autor jahrelang nur darauf gewartet, sein umfangreiches Wissen über Orangen in einem Buch zu verstauen. Tatsächlich aber begann, wie in so vielen anderen Fällen später auch, für McPhee die Arbeit an diesem Projekt eher zufällig.
McPHEE: Ich wollte für den New Yorker einen Artikel schreiben und war auf der Suche nach einem entsprechenden Thema. Auf die Orangen stieß ich, weil ich damals regelmäßig von Princeton nach New York pendelte. An der Pennsylvania Station war eine Maschine, die Orangen schnitt und preßte. Und weil ich dort jeden Morgen ein Glas trank, stellte ich irgendwann fest, daß sich im Laufe des Winters die Farbe des Orangensaftes veränderte. Dann sah ich eine Zeitungsanzeige mit fünf Orangen, die alle gleich aussahen. Aber jede dieser Orangen hatte einen anderen Namen - wie Parson Brown oder Hamlin. Das weckte meine Neugierde, und ich schlug dem Redakteur des New Yorkers einen kurzen Artikel über Orangen vor. Ich reiste dann nach Florida, um vor Ort mit Leuten in den Pflanzenschulen und der Industrie zu reden. Ich erhielt den Tip, zur Zitrus-Forschungsstelle der Universität Florida am Lake Alfred zu gehen. Und ich ging. Da gab es 140 Leute, die über Orangen promoviert hatten. Da gab es Leute in weißen Kitteln, die alle aussahen wie Ärzte. Da gab eine Herz-Lungen-Maschine - oder so etwas Ähnliches -, in die Orangen einatmen mußten. Ich erfuhr, daß eine Orange Sauerstoff ein- und Kohlendioxid ausatmet, daß also eine Orange weiterlebt, nachdem sie gepflückt wurde. In der Forschungsstelle existierte eine Bibliothek mit 44,000 wissenschaftlichen Abhandlungen und Büchern über Orangen. Ich ging dann in die Anbaugebiete und begann damit, einige dieser Artikel zu lesen. Als ich über die Westwärtswanderung der Orangen mit der Ausbreitung der Zivilisation las, änderten sich meine Absichten in puncto Projektumfang: aus einem kurzen Artikel sollte ein kleines Buch werden. Orangen kommen aus China, mit dem Aufkommen des Islam verbreiteten sie sich in Afrika, machten als Tangerinen Zwischenstation in Tanger und erreichten dann mit der Invasion der Mauren Spanien. Die ersten Orangen, die nach Amerika gelangten, brachte Columbus mit. Das war spanisches Gesetz, man mußte das Zeug gegen Skorbut mitnehmen. Ich fand, daß das alles sehr interessant ist. Auch gab es während der Renaissance in Italien viele Orangen. Im Heiligen Land aber, zu Christi Zeiten, gab es keine Orangen. Trotzdem pinselten all diese Renaissance-Maler Orangen auf den Tisch für das letzte Abendmahl. Sie waren da. Ich meine, die Orangen waren in Italien, aber nicht im östlichen Mittelmeerraum zu Christi Zeiten. Wie dem auch sei: Das einzige Kriterium, das ich beim Schreiben habe, ist, daß ich etwas für meine Geschichte verwende, wenn es interessant ist. Das nicht so Interessante lasse ich einfach weg.
GÖLDENBOOG: Die Grenze zwischen Interessantem und nicht so Interessantem ist bei McPhee eng abgesteckt. Wiederholungen, Plattitüden, Langatmigkeiten oder gar Langeweile duldet er nicht. Aus seinem recherchierten Material würden andere Autoren wahrscheinlich doppelt so lange Reportagen basteln. Und deshalb ist „Orangen" auch keines dieser kulturgeschichtlichen Allerlei-Bücher nach dem Motto „Der Mythos der Orange im Zeitalter der Mondfahrt" oder „Das Wesen der Zitrusfrucht als solche". Auch wenn McPhee sagt, er sei in erster Linie an Menschen interessiert, so hat man doch das Gefühl, daß er beim Schreiben noch von einem anderen Motiv angetrieben wird; das Motiv, den alltäglichen Dingen des Lebens deren scheinbare Nebensächlichkeit zu rauben. Soll also das, was uns selbstverständlich erscheint, in einem umfassenderen kulturellen Kontext dargestellt werden?
McPHEE:
Ich würde nicht sagen, daß ich so an meine Arbeit herangehe. Es mag sein, daß so etwas dabei herauskommt, aber es ist nicht bewußt von mir angestrebt. Ich gehe irgendwohin und sammle Material über ein bestimmtes Thema. Dann muß ich sehen, was ich aus diesem Material mache. Mein Ziel ist immer, einen durchstrukturierten, thematisch für sich alleine stehenden Artikel zu entwickeln. Was immer während des Schreibens passiert - es kann schon den von Ihnen beschriebenen Effekt haben. Aber wenn ich mit einem Thema beginne, dann habe ich keine exakten Vorstellungen, was für eine Art Artikel oder Buch daraus werden wird. Als ich beispielsweise nach Florida ging, hatte ich keine Ahnung, in was ich da hineingerate. Ich fand es interessant, sich dort umzusehen und darüber zu schreiben. Die Art und Weise, wie das Projekt dann Gestalt annahm, war größtenteils durch das bestimmt, was konkret vor Ort geschah. Ich habe während meiner Arbeit nicht sehr viele vorgefaßte Ansichten.
GÖLDENBOOG: So unprätentiös das klingt, so unprätentiös ist McPhee. Interviews gibt er selten, Hollywoods Anfragen nach Verfilmung seiner Stories werden höflich abgelehnt, sein Foto ist auf keinen Buchumschlag zu sehen. McPhee ist keiner dieser Vertreter des Neuen Journalismus, die in erster Linie über ihre eigenen Neurosen oder den Trip nach irgendwo schreiben. McPhee sammelt als Reporter vor allem mit Notizbuch, manchmal auch mit Kassettenrecorder jene Fakten, die er dann an seinem Schreibtisch in Princeton in die für das Thema entsprechende Form bringt. „Sich irgendwo umsehen und wenn es interessant ist, darüber zu schreiben“, das war vor fast dreißig Jahren in Florida McPhees Devise und ist es bis heute geblieben. Nach der Lektüre von „Orangen" hat man das Gefühl, daß McPhee auch temperamentvolle Texte über Gemüse, Kanus, Autoreifen, die Geologie Californiens, die Ankunft von Telefonen in einem Dorf nahe des Nordpols und über Luftfahrzeuge, die leichter als Luft sind, abliefern kann. Was er natürlich kann und auch schon getan hat. Bleibt nur die Frage, wo Buchhändler solche Bücher hinstellen sollen bzw. wo potentielle Käufer solche Bücher überhaupt finden können.
MCPHEE: Die Buchhändler gruppieren Sachbuchautoren nicht alphabetisch nach Autorennamen, sondern nach Themen. Sie stellen ein Buch von mir in die Landwirtschaftssektion, andere in die Sparten „Kunst" oder „Natur". Einige Buchhandlungen in den USA sortieren alle meine Bücher unter „Natur" ein, weil viele dieser Bücher etwas thematisieren, was diese Leute unter „Natur" verstehen. Meine Bücher sind schwer zu kategorisieren. Es ist ein bißchen entmutigend. Aber so ist es eben: Sachbücher nach Themen, Belletristik nach Autoren. Ich wäre gerne als Autor eingruppiert.
GÖLDENBOOG: Bleibt nur zu hoffen, daß die Buchhändler in Deutschland so gerissen sind, und „Orangen" nicht irgendwo in der Landwirtschaftssektion ¸hinter Gurken- und Kartoffelanbau verstauen. Denn sonst könnte es weitere 28 Jahre dauern, bis das Buch über russische Kunst auf deutsch erscheint. Dann hätten wir das Jahr 2022, aber vielleicht wäre dann russischer Underground wieder aktuell.