Rezension von John McPhees Cargo

Deutschlandfunk, Redaktion Büchermarkt

„Kapitän, haben Sie kürzlich irgendwelche Segelboote gesehen?"  

„Nein."  

„Sollten Sie aber. An ihrem Anker hängt ein Mast samt Takelage.“

Sie heissen Andy Chase, Dirty Shirt oder Terrible Terry. Sie sind Maschinisten, 2. Offiziere oder Vollmatrosen. Sie haben Beine wie Bierfässer, lächeln einmal im Monat und kennen keine Freundschaft. Manchmal, wenn sie lange genug auf Bananendampfern gefahren sind, wissen sie alles über Bananen. Außer wie diese sprechen. Sie machen 30.000 Dollar für sechs Monate Arbeit auf See und werfen beim überqueren des Äquators Münzen ins Wasser. Ihr Kommandeur ist der Kapitän, der absolute Herrscher, solange man an Bord ist. Einzige Ausnahme: Im Panamakanal haben Lotsen die uneingeschränkte Befehlsgewalt. Meistens aber gehorcht der Kapitän auch anderswo den Anweisungen örtlicher Lotsen, so idiotisch diese auch sein mögen. Versicherungsrisiko. 

In „Cargo“, der Reportage von John McPhee über die Südamerika-Reise eines der letzten US-Handelsschiffe, heißt der Kapitän Washburn. Und Washburn hat gesagt: „Dein schlimmster Feind kann dein Versicherungsagent sein. Wenn ich in Borneo bin, und jemand mit einem Speer in der Hand und einem Knochen in der Nase kommt an Bord und sagt, er wäre der Lotse, ist er angeheuert.“   

Angeheuert hatte auch McPhee, der die Hälfte des Jahres an der Universität Princeton Literatur der Tatsachen lehrt. Die andere Hälfte fährt er durch die Welt und recherchiert die Tatsachen für seine Literatur. Die erscheint nun seit 25 Jahren in der Zeitschrift New Yorker, in den meisten Fällen später dann auch als Buch. über die Jahre sind so mehr als zwanzig Reportagen erschienen: über die Geologie Kaliforniens, über die Flußbegradigung des Mississippi River, über Orangen-Farmer in Florida. Zuletzt schrieb McPhee eine Reportage über Reifen, nach dessen Lektüre man das Gefühl hatte, quasi alles über diese Sorte Gummi zu wissen, was es überhaupt zu wissen gibt. Und so ähnlich ist es mit Cargo und Seeleuten auf Frachtschiffen.˙ Es ist eine Reise der dritten Art auf einem untergehenden Genre: Es gibt kaum noch US-Handelsschiffe, die Seeleute sind fast alle zwischen fünfzig und sechzig, zu alt, um gegen Piraten eine Chance zu haben. Piraten? Ja Piraten, die überall an lateinamerikanischen Küsten aufSchnellbooten herumlungern, nachts Schiffe überfallen, Matrosen mit Maschinenpistolen bedrohen und Container nach Fernsehapparaten durchwühlen. Kapitän Washburns Vorsorge für diese Burschen ist eine Leuchtpistole, aus dessem Chromlauf Leuchtbomben von Golfballgröße herausschiessen. 

Sonst noch an Bord: Sondermüll, eine Ladung verhungernder Pferde, viertausendsiebenhundert Sack Zellstoffacetat-Flocken, zwanzig Tonnen Hormone für Geflügel. Und noch einiges mehr, was McPhee in seiner Detailbesessenheit auch aufzählt. überhaupt Detailbesessenheit: Häufig kommt diese Reportage mehr als gründlich daher. Seitenweise Erläuterungen über Wetter-Faxe und Kreiselkompasse, über maritime Offiziershandbücher, Satellitennavigation und Meeresküsten, über Drei-Zentimeter-Radar, Nord-Radar und Zehn-Zentimeter-Radar. Oder Zitate von Charles Darwin, der die gleiche Route hundertfünfzig Jahre früher befuhr. Alles ziemlich un-schick für einen Vertreter des Neuen Journalismus, aber McPhee ist nicht Tom Wolfe. Und will es auch nicht sein. McPhee aber ist ein Meister der Struktur. Unmerklich schiebt er seine Reportage voran: Washburn redet auf der Brücke mit seinem Schiff, eine Seite weiter verfährt sich der Herrscher der Weltmeere in seiner Heimatstadt im Kreisverkehr, weil er keinen Orientierungsinn an Land hat. McPhee schreibt, was Andy Chase, Dirty Shirt und Terrible Terry während ihrer 80-Stunden-Woche so treiben, wie sie in Maschinenräumen schwitzen, wie sie bei Windstärke 12 auf die Backbordnock schleudern. Und warum sie das alles so machen. Dumme Frage, des Geldes wegen. Ein 1. Offizier kann im Jahr sogar auf 70.000 Dollar kommen. Ein halbes Jahr Arbeit, ein halbes Jahr Golfspielen. 

McPhee beschreibt Verordnungen der Gewerkschaft so detailliert wie die Tricks der Mafia, Rauschgift zu schmuggeln. Er schreibt, warum auf amerikanischen Werften keine Handelsschiffe mehr gebaut werden, da· es besser - also billiger - ist, in der Republik Vanuatu ein Schiff registrieren zu lassen, daß die Chevron-Flotte zu 56 Prozent liberianisch ist und daß kein Texaco-Schiff unter amerikanischer Flagge fährt. Montageartig schreibt McPhee so über Menschen, Dinge und das Meer. Eine fiktive Soziologie der Seefahrt, eine Literatur der Tatsachen, die ihm so schnell keiner vormacht. 

„Cargo“ ist ein Buch, das man als Appetitmacher lesen sollte. Denn McPhee scheint jetzt mit Klett-Cotta einen Verlag gefunden zu haben - bzw. der Verlag den Autor -, der weitere Bücher herausgeben will. Als nächstes ist eine Übersetzung von „Levels of the Game“ geplant; eine Reportage aus dem Jahr 1969 über ein Tennismatch zwischen Arthur Ash und Clark Graebner, die bis heute als Höhepunkt des amerikanischen Sportjournalismus gehandelt wird. Aber Washburns Monologe sind so brillant wie Ashs Rückhand: Wieviel Schlagseite ein Schiff verträgt, wie eine Extreme Sturmwelle entsteht - der Kapitän kannte die prächtigsten Schiffe, die irgendwo gesunken sind und von denen niemals wieder jemand gehört hat. Denn Kreiselkompasse müssen funktionieren. Wenn sie nicht funktionieren, wird Osten zum Süden, Norden zum Westen. Dann steht am anderen Tag in der Zeitung, daß· ein Frachter Plutonium, Öl oder einfach nur Sprengstoffkapseln verloren hat. 

Aber nicht jedes Schiff, das verlorengeht, ist ein Opfer der Naturgewalten, weiß McPhee, der konzentrierte Zuhörer, der die Tricks der Branche jetzt wie ein Insider kennt. Washburn, Chase, Dirty Shirt und Terrible Terry dafür nochmals herzlichen Dank. McPhee: „Nicht jedes (Schiff) sinkt aufgrund von Kollisionen oder Navigationsfehlern. Man hat Besatzungen aus Rettungsbooten geholt, die gepackte Koffer und Lunchpakete bei sich hatten. Nehmen wir an, daß Südafrika wegen eines Embargos dringend Öl benötigt und bereit ist, Frachtraten in jeder Höhe zu zahlen. Man macht den Supertanker unkenntlich, indem man einen falschen Namen an den Bug pinselt, schickt ihn in einen südafrikanischen Hafen, löscht das persische Rohöl, man verläßt Südafrika, öffnet die Aussenventile, um das Öl durch Wasser zu ersetzen, packt die Koffer, macht sich ein paar Sandwiches und läßt die Ventile geöffnet, bis das Schiff sinkt. Folgt man diesem Szenario, wird einem niemand den Preis für einen originellen Einfall verleihen. Möglicherweise kassiert man die Versicherungssumme für das Schiff und vielleicht auch für das ‚Öl‘, das mit ihm gesunken ist. Vielleicht wird man erklären müssen, warum es keinen Ölfleck gab.“